Sonntag, 7. Februar 2010

1984 - 2.0

Das hat Orwell nicht vorhergesehen: die Privatsphäre stirbt gar keinen Märtyrertod im übermächtigen Würgegriff einer alles durchdringenden totalitären Staatsmacht. Sondern elend dahinsiechend an den entstellenden Metastasen des Narzissmustumors, der unsere Gesellschaft ungezügelt durchwuchert.
Der "Große Bruder" ist heute nicht mehr das unentrinnbare Kontrollsystem eines menschenverachtenden Machtapparats, sondern das scham- und geschmacklose Publikum der selbstverachtend ihre Seele zu Markte tragenden Psychogladiatoren.

"Jeder hat ein Geheimnis" - davon handelt schon das Ende der biblischen Sündenfallgeschichte. Die Geheimnisträger schützen ihre Scham mit Feigenblättern, und Gott "machte Adam und seiner Frau Kleidung aus Tierfellen und zog sie ihnen an". So ein achtungsvoller Umgang mit dem Geheimnis des Anderen - wie uncool. Viel lieber stellt man die Versager nackt an den Pranger - "it's fun."

Kein Geheimnis ist vor unserer hemmungslosen Enthüllungswut sicher - erst recht nicht das eigene. Die alte Geschichte beschreibt den anfänglichen Zustand unbeschwerter Unschuld mit dem schlichten Satz: "Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht." Wenn das der entscheidende Punkt ist, sollten wir doch bald wieder paradiesische Zustände erreicht haben. Nie war es so leicht, sich vor aller Welt schamlos zu entblößen, und es wird immer einfacher. YouTube und Twitter waren nur der Anfang. Facebook hilft nach Kräften, auch gleich alle Freunde mit ins Rampenlicht zu zerren.

Und wer's noch paradiesischer möchte, sollte sich bei Blippy anmelden. Sicher liegt auch dir die altmodische Heimlichkeit deines Bankkontos schon seit langem schwer auf der Seele - hier findest du endlich Befreiung!

Ich will nicht das "soziale Web" verteufeln. Blogge ja selbst. Wer im Glashaus sitzt, soll sich nicht wundern, wenn die Leute gucken. Aber sozial wird das Web durch grenzenlose Selbstveröffentlichung genauso wenig wie die Fußgängerzone durch Nacktshoppen.
Dass 40% der deutschen Jugendlichen und Erwachsenen eigene Inhalte ins Netz stellen, halte ich durchaus für eine kulturelle Errungenschaft. Was wir onlinedeutschen da aber im Einzelnen veröffentlichen - nun ja...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen